Wo alles begann...

 


Der Bratschist Martin Hahn erwartet mich vor der Freien Musikschule Basel. Hier genoss er vor beinahe 40 Jahren seinen ersten Bratschenunterricht bei Giselher Langscheid.
 

Martin Hahn auf Radtour. Bild: Hahn

Zwei Tage dienstfrei im Orchester – Martin Hahn hat sich aufs Velo geschwungen und ist über den Schwarzwald in seine alte Heimat am Hochrhein gefahren. Das Fahrrad ist Martin Hahns zweite Leidenschaft – nach der Bratsche – und ein wichtiger Ausgleich zum Dienst im Orchester.
 

Vor zwei Jahren beim Bratschistentag in Trossingen vernahm Hahn zum ersten Mal von der Webseite music4viola.info. Er war restlos davon begeistert und machte sich daran, das wertvolle Angebot bei seinen Kollegen bekannt zu machen. Noch immer, so die Schätzung Hahns, kennen mehr als 80 bis 90 Prozent der Bratschistinnen und Bratschisten dieses umfassende Angebot nicht.
 

Martin Hahn ist ein vielseitiger Musiker, der seine Karriere auf verschiedene Standbeine stellt. Das wichtigste Standbein ist seine Stelle in der Badischen Philharmonie Pforzheim, dem Orchester, welches sämtliche Vorstel

lungen des Musiktheaters am Stadttheater Pforzheim begleitet. Die Badische Philharmonie Pforzheim gibt zahl

Martin Hahn, 2018

reiche Gastspiele in Städten Süddeutschlands und der Schweiz, die kein eigenes Musiktheater haben, und leisten damit einen wichtigen Beitrag zum Kulturangebot im ländlichen Raum. Ausserdem besitzt das Orchester eine zentrale Stellung im Konzertwesen der Stadt Pforzheim.

Vor zwölf Jahren gründete Hahn in seinem grossen Haus südlich der Stadt eine private Musikschule sowie einen Violashop. Als Kammermusiker ist er vor allem der Besetzung Gesang, Bratsche und Klavier verpflichtet, in der er zusammen mit seiner Frau, der Sopranistin Heidrun Maria Hahn, und dem Pianisten Wolfgang Heinz (Kapellmeister am Staatstheater Stuttgart) konzertiert. Das Trio plant im Herbst eine CD-Produktion mit Werken von Adolf Busch, Jan Koetsier und Otto Jochum. Die Hahns bewegen sich hier auf den Spuren der Sängerin Lore Fischer und ihres Mannes Rudolf Nel, seinerzeit Bratschist am Bayrischen Rundfunk. Die beiden verstorbenen Künstler hatten sich ein reiches Repertoire erarbeitet. Ihr Nachlass erweist sich heute als ein grossartiger Fundus, dessen sich Hahn und seine Frau nun erfreuen dürfen.

 

Pause nach der Fotosession und vor dem
Auftritt im Stadttheater in Langenthal

Herr Hahn, wie sind Sie zur Bratsche gekommen?
Als ich 10 Jahre alt war, fing ich mit Geige an, wie viele Bratschisten. Ich komme aus Bad-Säckingen, ganz in der Nähe von Wehr, dem Heimatort von Anne-Sophie Mutter. Aus der Ecke kamen immer wieder hervorragende Talente. Wie Sternschnuppen, die einem Kometen folgen. Als an einem Kammermusikkurs bei Stuttgart, den ich im Alter von sechzehn Jahren besuchte, eine Bratsche fehlte, sagte mein Lehrer Giselher Langscheid: «Da hast du eine Bratsche, jetzt mach mal...». Innerhalb von ein, zwei Wochen hatte ich umgestellt. Später habe ich bei Langscheid an der Freien Musikschule in Basel und später bei Henrik Crafoord in Bern studiert.


Sind Sie in erster Linie Orchestermusiker?
Ja, gerade hatte ich mein 25-jähriges Dienstjubiläum bei der Badischen Philharmonie Pforzheim. Das Theater Pforzheim ist das kleinste Dreispartenhaus Deutschlands. Wir machen viele Abstecher, auch in die Schweiz, nach Langenthal und Baden. Im süddeutschen Raum zum Beispiel nach Lahr, Waiblingen, Schwäbisch-Gmünd; das sind Orte, an denen es keine eigenen Ensembles, dafür schöne Spielstätten gibt. Diese Abstecher sind eine wichtige Einnahmequelle für das Theater. Sie werden mitfinanziert vom Land Baden-Württemberg.

 

Hahn, Zauberflöte in Langenthal

Wird es Ihnen nach 25 Jahren nicht langweilig im Orchester zu spielen?
Ganz und gar nicht. Jeder Tag ist anders, wir spielen immer wieder neue Stücke in Oper, Musical, Operette, Ballett sowie Sinfoniekonzerte. So eine Orchesterstelle ist ein Privileg und heute nicht mehr so leicht zu bekommen.

Welches war Ihre erste Orchesterstelle?
Vor meiner ersten Stelle habe ich die Orchesterschule Wolfgang Hock in Gernsbach besucht. Herr Hock war Konzertmeister beim damaligen Südwestfunk-Orchester. Davon habe ich sehr profitiert. 1990 war ich ein halbes Jahr in Lissabon an der Oper São Carlos engagiert. Das war intensiv. Es gab einen Stagione-Betrieb, viele verschiedene Stücke und immer wieder andere Dirigenten, sieben, acht Vorstellungen und dann das nächste Stück. Nach meiner Rückkehr war ich anderthalb Jahre Zuzüger am Stadttheater St. Gallen. 1992 bekam ich die Stelle in Pforzheim.

Hatten Sie nie Probleme mit dem Bratschenschlüssel?
Heute noch (lacht). Oft bekommt man Noten mit Bratschen-, Geigen- oder Bassschlüssel vorgelegt. Das Hin und Her zwischen verschiedenen Schlüsseln macht einen manchmal schon verrückt...

Aber nach so vielen Jahren im Orchester spielen Sie sicher alles ab Blatt...?
Ja, das schon. Kennen Sie den Witz: Der Bratscher kommt nach Hause und seine Frau fragt, was habt ihr heute gespielt? Er antwortet: ich weiss nicht, die Noten waren schon aufgeschlagen.

Sie haben ein Faible für Kammermusik?
Ja, meine Leidenschaft ist Musik für die Besetzung Gesang, Bratsche und Klavier. Zusammen mit meiner Frau - sie ist Opernsängerin - sind wir seit 20 Jahren mit Programmen unterwegs.

 

Martin Hahn, 2018

Gibt es für diese Besetzung Originalliteratur?
Ja, sehr viel sogar. Wir sind da auf den Spuren von Lore Fischer und Rudolf Nel. Nel war seinerzeit Bratschist im Bayrischen Rundfunk. Lore Fischer war Sängerin und in den 50er- 60er Jahren Gesangsprofessorin an der Stuttgarter Hochschule.
Für sie ist viel geschrieben worden (Jan Koetsier, Otto Jochum, Hermann Reutter u.v.m.) Es gibt auch alte Literatur von Brahms (Zwei Geistliche Gesänge Op. 91) und einiges andere mehr. Den Nachlass von Fischer und Nel haben wir an der Stuttgarter Musikhochschule aufgestöbert.

Unterrichten Sie auch?
Ich habe an der Musikschule Neuenbürg unweit von Pforzheim gearbeitet. Da hatte ich viele Schüler. Als wir 2003 südlich von Pforzheim im ländlichen Raum unser Haus gekauft hatten, habe ich eine private Musikschule gegründet. Die Lehrer kommen von auswärts zu uns – für sie ein Vorteil, da sie so nicht einzelnen Schülern nachreisen müssen. Das läuft schon seit 12 Jahren ganz gut.

Sie betreiben auch einen Violashop...
Das ist kein Ladengeschäft im engeren Sinn. Wir verkaufen und vermitteln Streichinstrumente vom Schüler- bis zum Konzertinstrument. Wir verkaufen auch Zubehör. Reparaturen aller Art an Streichinstrumenten und Bögen nehmen wir gerne an und geben Sie an unsere angeschlossenen Fachwerkstätten weiter. 

 

Was ist das besonders Interessante an der Bratsche?
Die Bratsche ist ein sehr vielgestaltiges Instrument. Keine ist wie die andere, weder von der Grösse noch von der Klangfarbe her. Sie hat sich ursprünglich aus zwei verschiedenen Instrumenten entwickelt, aus einer kleiner mensurierten, beweglicheren Form und einer tieferen, grösseren Bratsche, die die Funktion eines Füllinstrumentes hatte. Vor 250 Jahren, als die Kultur des Streichquartetts entstand, wurde aus der grossen, tiefen Tenorviola mit 48 cm Korpusgrösse und der helleren Altviola die heutige Viola entwickelt.

Eine «Artenvielfalt» ist da verloren gegangen...
In der Tat, das stärkere Instrument hat überlebt. Die Entwicklung ging in Richtung immer mehr Virtuosität. Da hatte ein grosses, unhandliches Instrumente wie die Tenorviola keine Chance mehr. Dennoch hängt man dem tenoralen Klang der großen Violen nach. Ein grosses Feld für Geigenbauer, mit allen möglichen und unmöglichen Tricks, das zu kleine Volumen der Viola im Verhältnis zur Tonlage erfolgreich auszugleichen.

Sie kennen sich also aus bei der Bauart der Instrumente?
Von den Instrumenten habe ich am meisten gelernt. Unter den Bratschen ist wie gesagt keine wie die andere. Was auf dem einen Instrument schwierig ist, geht auf dem andern leicht. Es macht einen grossen Unterschied, ob man ein Instrument für Solo, Kammermusik oder Orchester benutzt, wie die Partnerinstrumente klingen und ob man in grossen oder kleinen Sälen spielt.

 

Welches Instrument spielen Sie?
Ich erarbeite mir die Literatur mit einer Andrea Guarneri–Nachbildung von Wolfram Neureither, Montpellier mittlerer Grösse. Je nach Situation und Erfordernis wechsle ich dann auf ein grösseres oder auch kleineres Instrument. Zu nennen ist da eine wunderbare Nachbildung einer alten deutschen Viola von Bernd Hiller, Markneukirchen sowie die Ritterbratsche von Adam Hörlein von 1886 für die Partien mit dem Trio.

Welche Bratschisten/innen mögen Sie am meisten?
Ich schätze das Viergestirn Tabea Zimmermann, Juri Bashmet, Kim Kashkashian und Nobuko Imai ausserordentlich.

Wie beurteilen Sie den Klassikbetrieb von heute?
Auf der einen Seite haben wir eine Hochkultur und andrerseits werden die Werte, die sie ausmachen immer mehr ausgedünnt. Es gibt in Deutschland heute noch 129 Berufsorchester. Nach der Wende waren es noch 168. Seither gab es Fusionen und Verkleinerungen noch und noch. Der Trend zeigt derzeit noch nach unten, trotz sprudelnder Steuereinnahmen.

 

Stadttheater Langenthal

Sollte unsere Musik- und Theaterkultur nicht eher ausgebaut als kaputt gespart werden?
Natürlich sollte sie das. Sie ist eine wesentliche Errungenschaft unserer westlichen Welt. Abgesehen davon ist sie auch ein Wirtschaftsfaktor. Während bei den Institutionen abgebaut wird, wird an den Hochschulen immer mehr hochqualifizierter Nachwuchs ausgebildet, welcher mit immer weniger und schlechter bezahlten Stellen konfrontiert wird. Hoffen wir, dass die Deutsche Orchester- und Theaterlandschaft 2019 auf die Liste des UNESCO-Kulturerbes kommt. Die Bemühungen sind schon seit zehn Jahren im Gang. Auf der nationalen Liste sind wir schon seit 2014.

Ihre nächsten Highlights?
Das nächste Konzert mit dem Hahn-Trio ist am 24.6.2018 im Königlichen Kurtheater Bad Wildbad.
Das nächste Event im Orchester ist die Spielzeiteröffnung im September mit Wagners Rheingold.

Herr Hahn, herzlichen Dank für das Gespräch!


Niklaus Rüegg
 
Dieser Blogartikel wurde verfasst von Niklaus Rüegg, diplomierter Opernsänger (Musikakademie Basel), Absolvent des Internationalen Opernstudios Zürich, zweimaliger Gewinner des Migros-Begabten-Stipendiums, zahlreiche Engagements in Oper, Operette, Musical und Konzert im In- und Ausland.
Seit zehn Jahren ist Rüegg auch als Musikjournalist tätig und betreut unter anderem die Verbandsseiten des VMS (Verband Musikschulen Schweiz) in der Schweizer Musikzeitung.
Als junger Mensch hatte Niklaus Rüegg Geige und Bratsche gespielt.


Photos: Mark Walder, 2018
 

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